F. Falk: Gender Innovation and Migration in Switzerland

Cover
Titel
Gender Innovation and Migration in Switzerland.


Autor(en)
Falk, Francesca
Reihe
Palgrave Studies in Migration History 4
Erschienen
London 2018: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
103 S.
Preis
€ 29,96
von
Lou-Salomé Heer

1974 migriert die Mutter von Francesca Falk von Norditalien ins St. Galler Rheintal. Sie ist irritiert. Keine Blockzeiten in den Schulen, lohnarbeitende Mütter sind nicht gern gesehen und das Schweizer Familienrecht erscheint ihr schlicht absurd. Als habe sie eine Reise zurück in die Vergangenheit angetreten, schildert die Mutter ihre Wahrnehmung der Schweiz. Wie die Autorin zeigt, formulieren auch andere Immigrantinnen ihre Erfahrungen in dieser Form. Und nicht selten sind sie prägend für das politische Engagement dieser Frauen. Wie bringen wir diese biographischen Erzählungen mit einer immer noch bestehenden Selbsterzählung der Schweiz als Hort der Demokratie und des Fortschritts zusammen?

Auf knapp 100 Seiten legt Francesca Falk mit «Gender Innovation and Migration in Switzerland» eine gelungene Intervention vor: Geschichte und damit auch die Geschichte der Frauenbewegung in der Schweiz müsse migrantisiert werden. Dabei geht es Falk um eine Transformation des nationalen Selbstbildes in Geschichte und Gegenwart, um eine andere Erzählung der Schweiz, in der die Bedeutung von Migration nicht länger ausblendet oder einseitig als Problem begriffen wird.

Es gelte, den Blick dafür zu schärfen, wie migrierte Frauen und Migrationserfahrungen die Frauenbewegung in der Schweiz mitgeprägt haben. So werde sichtbar, dass Migration Demokratisierungsprozesse und emanzipatorischen Wandel in der Schweiz mitvorangetrieben habe. Hier wird deutlich, was Falk unter dem Begriff «Gender Innovation» verstanden haben möchte: Es geht ihr um soziopolitische Veränderungen, die neue Lebensformen und eine gerechtere Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse und der Geschlechterbeziehungen ermöglichen. Ohne gravierende Unterschiede der Rahmenbedingungen und Auswirkungen von Migration bestreiten zu wollen, plädiert Falk für einen breiten Migrationsbegriff. In den Blick genommen sollen auch interne Migration und Situationen, in denen Menschen durch das Ausländer- und Migrationsrecht betroffen sind wie beispielsweise der vormalige Verlust des Bürgerrechts von Schweizer Frauen bei Heirat mit ausländischen Staatsangehörigen.

In kurzen, spannend zu lesenden Fallskizzen zu den vier Themenfeldern «Wandel vergeschlechtlichter Arbeitsteilung», «Kindertagesstätten», «Hochschulwesen» und «Frauenstimmrecht» zeigt Falk, wie strukturelle Bedingungen, individuelle Lebensgeschichten und alltägliche Ereignisse ineinandergreifen und gesellschaftlichen Wandel mit sich bringen können.

Diese Momente sind es, die Francesca Falk interessieren. So erzählt sie die Geschichte von Ottilia Paky-Sutter, die aus einer angesehenen Familie in Appenzell Innerrhoden stammt. Sie repräsentierte den Inbegriff lokaler Tradition: Zusammen mit ihrer Schwester bildete sie ein Gesangsduett, trat an der Landesausstellung auf und posierte 1945 bei einem Ortsbesuch von General Guisan mit ihm auf einem offiziellen Foto. 1947 heiratete Ottilia Paky-Sutter einen Österreicher und verlor ihre Schweizer Staatsbürgerschaft. Die gesamte Familie musste nun einen kostspieligen Einbürgerungsprozess durchlaufen. Wie Falk in einem Interview mit der Tochter von Ottilia Paky-Sutter erfuhr, führte das für ihre Mutter demütigende Erlebnis dazu, dass diese sich von nun an für die politischen Rechte von Frauen einsetzte. 1978 gründete sie eine Frauengruppe, die sich für die Einführung des Frauenstimmrechts in Appenzell Innerrhoden einsetzte.

Francesca Falks Perspektive ist geprägt von intersektionalen Analysen und Debatten. Intersektionalität sei wichtig, um emanzipatorische Prozesse zu verstehen. Sie plädiert dabei für eine erweitertes Verständnis dieses Konzepts, das zumeist der Analyse von spezifisch miteinander verbundenen Diskriminierungsformen dient. Wie Falk am Beispiel der Geschichte von Ottilia Paky-Sutter zeigen will, könne gerade auch das Zusammenspiel von Privilegien und Diskriminierung Wandel vorantreiben. Die Autorin verzichtet jedoch darauf vertieft zu diskutieren, wie das in seiner Herkunft dezidiert anti-rassistische und anti-sexistische Konzept genau erweitert werden kann, um die verschiedenen Machtverhältnisse in Paky-Sutters Geschichte zu beschreiben. Eine noch engere Verknüpfung von konzeptioneller Herangehensweise, Theoriedebatte und Deutung des empirischen Materials wäre an dieser Stelle sehr anregend gewesen.

Der von Falk geforderte Perspektivenwandel auf Migration, Emanzipation und gesellschaftlicher Wandel bringt zahlreiche Forschungsdesiderate hervor, welche die Autorin anregend umreisst. So fehlen bislang vertiefte Untersuchungen zu den Lebens-, Karriere- und Migrationswegen von ersten Akademikerinnen wie Sophie Piccard oder Lina Stern. Die Erforschung der Wirkung dieser Frauen in ihren jeweiligen Disziplinen und ihrer Netzwerke versprechen spannende Erkenntnisse für die Geschlechter- und Wissenschaftsgeschichte. Ein weiteres Untersuchungsdesiderat ist die Frage, ob sich Geschlechternormen in der Schweiz durch internationale Migration und die Beschäftigung von Männern in feminisierter, bezahlter Arbeit verändern. Gleichzeitig stellt sich hier die Frage, ob veränderte Geschlechternormen einen Einfluss auf die gesellschaftliche Organisation von Reproduktion haben und tatsächlich eine gerechtere Verteilung dieser Arbeit mit sich bringen.

«Gender Innovation and Migration in Switzerland» ist frei zugänglich, die einzelnen Kapitel funktionieren auch als selbstständige Aufsätze, denen jeweils ein kurzes Abstract vorangestellt ist. Die Publikation empfiehlt sich nicht zuletzt auch für den universitären Unterricht zur Geschichte der Schweiz. Sie gibt Anstoss zu gewichtigen Blickverschiebungen und die engagierte Haltung von Francesca Falk inspiriert, die Zusammenhänge von Frauen- und Geschlechtergeschichte, Migration und historischem Wandel zu debattieren und weiter zu erforschen: Viele Geschichten warten darauf, noch oder neu erzählt zu werden.

Zitierweise:
Heer, Lou-Salomé: Rezension zu: Falk, Francesca: Gender Innovation and Migration in Switzerland, Cham 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 222-223. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit